Menschen mit merkwürdigen Vorlieben gibt es zuhauf. Menschen, die an eingeschränkten Fähigkeiten ihrer Sinne leiden ebenfalls, manche sind leider auch pathologisch mit einem schlechten Geschmack gestraft. Und dann gibt es noch die – nennen wir sie mal Analphabeten des Geschmacks. Oder besser: Geschmacklich naiv?
Über Geschmack lässt sich nicht streiten?
Dies ist das mit Abstand dümmste Bonmot, welches meist zur Verteidigung der eigenen Geschmacklosigkeit vorgebracht wird. Über nichts lässt sich besser streiten, als über Geschmack. Es geht nicht darum, ob jemand partout keinen Sherry, Riesling, Deutschen Spätburgunder, Honig oder Jazz mag. Es geht auch keinesfalls um elitäre, exotische Geschmackserlebnisse, die sich ohnehin nur eine Minderheit leisten kann.
Artischocken, Kapern, saure Anchovis und Obertongesang muss auch nicht jeder mögen, nicht einmal Chicorée. Wer aber nur SWR3 hört, Heidi Klum als Maßstab für irgendwas nimmt, Casting-Bohlen-Sternchen Musik von Pseudo-Superstars mit Top-Qualifikation für das Dschungelcamp als Referenz betrachtet, dem entgeht schlicht etwas Grundsätzliches, während er seine Fertigpizza mit Chai-Latte-Vanille oder einem Rotkäppchen Frucht-Secco Granatapfel runterspült:
Die Erfahrung des unglaublich breiten Geschmackskosmos jenseits des überzuckerten, Glutamat-verseuchten, ohrenverklebenden künstlich flavorisierten Mainstreamgeschmacks. Ungesund und verdummungsfördernd meist noch obendrein.
Geschmack kann man lernen.
Muss man lernen. Von Anfang an. Die menschliche Geschmacksentwicklung und Herausbildung von persönlichen Vorlieben (die gibt es natürlich) ist alles andere als ein trivial zu beschreibender Prozess und beginnt schon im Mutterleib. Neben der genetisch veranlagten Ausprägung von Rezeptoren ist es nach der Geburt auch eine Erziehungssache oder zumindest eine Sache der Ermöglichung von Geschmackserfahrungen und Sinneseindrücken.
Wie riecht eine Heckenrose im Nordseewind?
Wer von Kindesbeinen an eintönig und erlebnisarm aufgewachsen ist, dem fehlt es lebenslang an einer erworbenen Vergleichsmatrix der Wahrnehmungsnuancen, einer Richtschnur. Er ist quasi geschmacklich ungebildet trotz möglicherweise bestens funktionierenden Sinnesorganen. Dies gilt freilich nicht nur hinsichtlich Geruch und Geschmack, sondern selbstverständlich auch für alle anderen Sinne. Es fehlen wichtige Verknüpfungen, Assoziationen und Erfahrungen.
Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken
Neben den rein physiologischen Prozessen und menschheitsgeschichtlich uralten Warn- und Überlebensmechanismen (z.B. bitter = tendenziell unverträglich, evtl. giftig; süß = energiereich) spielen weitere Faktoren und deren Synästhesie eine Rolle beim – nennen wir es mal »Lebenslangen Wahrnehmungslernen «.
Kulturelle und familiäre Aspekte, Hunger, Mangel oder dauernde Verfügbarkeit, Belohnung, Bestärkung, Bestrafung, Erinnerung. – Angeboren ist wenig, vielleicht das wenigste. Erinnerung ist der stärkste Faktor.
Der Geschmackssinn verändert sich im Laufe des Lebens. Zumindest nimmt das Auflösungsvermögen der Schmeck- und Riechorgane in Zunge und Nase mit dem Alter ab. Bei Frauen dank Östrogen übrigens langsamer als bei Männern – in vielerlei Hinsicht riechen ältere Männer also schlechter 🙂
Unser Erfahrungsschatz hingegen, so wir denn den eigenen Geschmacksapparat entsprechend füttern und trainieren, nimmt fast lebenslänglich zu. Roher Fisch in Seetangwickel mit klebrigen, gesäuertem Reis? IPA? Kimchi? Meine Großmutter hätte den Kopf geschüttelt. Aber sie hätte wenigstens probiert, weil sie bis zuletzt neugierig geblieben ist. Und sie hat selbst experimentiert, auch notgedrungener Maßen.
Überall noch ein bisschen Brühe dran!
Oder ein Löffelchen voll Zucker an die Karotten, in die Suppe, einfach überall. Das scheinbare Geheimnis der (groß-) mütterlichen Küche kommt aus Glas und Tüte: Zucker, Maggiwürze, Glutamat, Fondor oder gleich die Fix-Tüten. Viele Studenten glauben kaum, dass man eine Sauce Bolognese ohne Mirácoli, Tüte oder Fertigglas selbst machen kann, selbst Profi-Köche greifen oftmals schnell zum Convenience-Produkt, gerade bei Suppen und Soßen.
Bittere Aromen werden und wurden von der Lebensmittelindustrie weggezüchtet, von Möhren über Tomaten bis hin zum herben Spargel. Den Rest erledigen eben Zucker, Enzyme und Absorber in den Fertiggerichten von Nestlé (Maggi), Mondelēz International (Kraft Foods, Heinz, Milka…), Mars & Co. oder eben Mononatriumglutamat und andere E-Nummern von 620 bis 625.
Über 600 Milligramm industriell hergestelltes Mononatriumglutamat verzehrt jeder Mensch im Schnitt pro Tag…
Einheitsbrei, Einheitsgebräu?
Indian (oder auch German) Pale Ale (IPA), Gose, spontanvergorene Biere, alte, wiederbelebte Sorten auf der einen Seite, süßliches, klebriges Helles aus Bayern, Weizenbier mit dezenten Aromen von weichgematschter Banane und Backhefe, Hopfenaroma und Malzextrakt… gefällig neutral und mit einem Hauch von Vanillin auf der anderen.
Vielleicht ist der wahnsinnige Konzentrationsprozess in der Bierbranche mit ihrem Primus Anheuser-Busch InBev, der über 500 Biermarken weltweit vereint, eine der Hauptursachen für Wachstum und stark gestiegenes Interesse an kleinen und Kleinstbrauereien?
Die Homebrewing und Craftbeer-Szene boomt jedenfalls schon seit Jahren auch diesseits des Atlantiks und feiert sich als Gegenbewegung zum Multi- Massengeschmack internationaler Prägung. Verschiedenste Hopfensorten, Koriander, Meersalz, alte Braurezepturen und der von Traditionalisten oder Ewiggestrigen als dräuend Ungemach herbeigeredete Tod des heiligen Deutschen Reinheitsgebotes… was wäre das für ein Verlust? Mal ehrlich.
Auch die Biermultis selbst machen konsequenterweise inzwischen Craftbeer, was nicht wirklich verwundert. Bei den Softdrinks und wie sie sich sonst nennen mögen gibt es ebenfalls etliche Marktteilnehmer und alte mit neuen Produkten. Kleine, lokale Hersteller, die sich bewusst von Nestlé, Coca-Cola, PepsiCo, Unilever Foods & Co abgrenzen und mit originellen Mixturen teils aus nachhaltiger Produktion, teils in Bioqualität, schmackhafte Flüssigkeiten wie Fassbrausen auf die Flaschen ziehen. Healthdrinks und Veggie-Gemüseversafter, Brauereien, die ihr Angebot mit NonAlk-Produkten ergänzen…
Craft oder Billig?
Ein Konzentrationsprozess wird unausweichlich folgen. Bleibt jedoch die Hoffnung, dass eine gesteigerte geschmackliche Vielfalt verbleibt, auch in qualitativer Hinsicht. Heute kann ich etwa neben dem Billigbier von Oettinger für unter 5,00 € die Kiste im Angebot auch ein India Pale Ale von BraufactuM für 12,99 € für die 0,75l Flasche erwerben. Das PROGUSTA HARVEST EDITION liegt preislich damit nicht nur über dem Kasten Standardbier, sondern auch deutlich über dem Durchschnittspreis für eine Weinflasche aus dem Supermarkt. Und wenn der Brauer 2,90 € für eine 0,33L Flasche „Crafted Edelbier“ verlangen kann, sollte er auch bessere Zutaten verwenden können als ein Massenbrauer.
Die Welt steht zumeist dennoch auf den Einheitsbiergeschmack. (Beim Champagner ist es dasselbe.) Beck’s wird immer Heineken-labbriger und Bud’s & Miller waren schon immer so wässrig, wie das hochgelobte Münchner Helle klebrig-kopfschmerzig war. Und das Einheitsbier kommt eben meist von Budweiser, Miller, Corona (das Bier, das ohne Zitrone nicht trinkbar ist), Heineken, Paulaner und Beck’s oder zumindest aus einer Brauerei des gleichen Großkonzerns.
Geschmacklich Naiv? Smells like Vanilla…
Naive Geschmacksmuster lassen sich am einfachsten wie folgt bedienen:
Eine cremig weiche Textur, keine herausstechenden, markanten Töne, nicht notwendigerweise echter Zucker, niemals etwas Bitteres.
Das ganze etwa mit einer ordentlichen Portion Vanillin abgerundet, denn echte Vanille ist natürlich viel zu kostbar.
Vanillin – es ist einfach überall, auch im Kleinmädchen-Parfum.
Über 12.000 t Vanillin werden weltweit jährlich verbraucht, einer der wichtigsten Aromastoffe, der zudem äußerst günstig in der Herstellung ist. Erinnert sich jemand noch an den Chemieunterricht? An die wunderbare Welt der aromatischen Kohlenwasserstoffe und Benzolringe? Während man die vergessenen Matheaufgaben abschrieb? Vanillin ist für die Lebensmittelindustrie Gold wert. Salz, Zucker, Fett und eben Aromastoffe wie Vanillin machen gierig. Teilweise sogar mit Suchtpotential.
Gier ist Gut.
Zumindest für die Lebensmittelindustrie. Nach einer Milchschnitte willst du noch eine, trotz der erheblichen Zucker-Fettgemisch-Menge. Das gute Palmöl sowie Butterreinfett machen als Inhaltsstoffe mit Zucker fast 60 Prozent der Schnitte aus. Aromastoffe und Zusatzstoffe gibt’s neben ordentlich Salz natürlich auch noch. Darunter – klar – Vanillin.
Vanillin ist wie gesagt sehr billig, insbesondere das Ethylvanillin. Es reduziert und maskiert unangenehme Gerüche wie Muff-Töne. Ein Effekt, der auch im Weinbusiness gern genutzt wird. Vanillin stimuliert Rezeptoren im Hirn, und wirkt appetitanregend. Daher findet es auch als Mastmittel in der Fleischproduktion Verwendung. Schon der Vanillegeruch ist anregend auf das zentrale Nervensystem und die Viecher fressen mehr als sie eigentlich wollen. Das gilt auch für den Menschen, der mehr Kekse und Schnitten futtert, als er sollte… und wie schmeckt eigentlich mit Glutamat versetzter Rotwein? Muss ich mal probieren. Oder eher nicht.
Gut Holz ist Eichenholz.
Neben anderen Effekten, die den meisten „tanninlastig geeichten“ Lesern geläufig sein sollten, ist es auch der typische Vanilleton des Barriquefasses, der auch den günstigsten Rotwein hochwertiger erscheinen lässt. Amerikanische Eiche ist dabei stärker vanillegeprägt als die Europäischen Eichenfässer, und da kann Trump nun ausnahmsweise wirklich nichts dafür. Ob er nun im Barrique, mit Stacks, Holzchips oder mit Sägemehl in großen Teebeutel oder sonst wie in Kontakt kommt – der Wein wird geschmacklich aufgewertet und abgerundet, lässt sich hochpreisiger vermarkten. Mach unangenehmer Beiton im Wein wird hierdurch gerne auch mal gemindert, um nicht zu sagen übertüncht oder weggeholzt…
Ach ja:
synthetisches Vanillin ist auch noch ein starkes Nervengift
und gilt als krebserregend, mutagen und DNS-schädigend…
Bittere Zuchtergebnisse, bittere Medizin
Bitter ist – wohl vor allem auch evolutionsbedingt – der unpopulärste, Süß der populärste Geschmack.
Dabei sind Bitterstoffe für viele hochwertige Lebensmittel die herausragenden Aromen. Bei Endiviensalat, Radicchio und Chicorée und vielen anderen Gemüsearten wurden seit meiner Kindheit die Bitterstoffe größtenteils herausgezüchtet, was zu faden Sorten, die sich nur noch optisch groß unterscheiden, geführt hat. Bitterstoffe sind dabei nicht nur gut für die Verdauung, sondern oft auch sehr gesund. Ganz anders als Vanillin. Die Stimulation von Bitterrezeptoren kann möglicherweise das Immunsystem zur Abwehr von Infektionen anregen, während intensive Süßreize es ausbremsen. Bittere Pillen bracht das Land!
Milchprodukte ohne Fett?
Bei allem Verständnis für die wachsende Zahl der Unverträglichkeiten einerseits, dem Kampf gegen Adipositas andererseits sei zunächst festgestellt:
Fett ist ein Geschmacksträger. Fett ist lebensnotwendig.
Freilich braucht es nicht die konsumierten Mengen an minderwertigen Fetten und Ölen und ums Überleben geht es in den seltensten Fällen. Pervers, aber es sterben mittlerweile mehr Menschen weltweit an den Folgen des Übergewichts denn an Unterernährung.
Man muss ja unter die fingerdicke Käsescheibe nicht auch noch ebenso dick Butter drunter schmieren. (Man kann aber… und manchmal ist es einfach umwerfend gut.)
Aber Milch ohne Fett oder fettreduziert? Wer mal Milch von der Kuh bzw. Rohmilch getrunken hat und diese mit der weißen Flüssigkeit mit 0,1% Fett vergleicht oder Vollfettkäse bzw. Rohmilchkäse mit fettreduziertem Whatever-Cheesy Light – es ist so offensichtlich.
Ob es der Gesundheit zuträglich ist, kann bei der massiven Geschmackseinbuße meines Erachtens dahinstehen, dann konsumiere ich halt etwas weniger davon. Oder trinke Espresso… ganz ohne milchzuckerfreien, fettfreien Kaffeeweißer bzw. non-dairy creamer. Natriumkaseinat, Calciumphosphat und selbstverständlich auch Vanillin entgehen mit dann.
Natürlich, möchte man sagen.
Kaffee mit Aroma?
Für Leute, die entweder keinen guten Kaffee haben oder mögen oder ihnen ohnehin nicht zu schätzen wissen.
Echter Kaffee enthält wie echter, hochwertiger Kakao eben Bitterstoffe!
Aber dafür gibt es ja glücklicherweise Vanillearoma, Mandel und Zimt, Haselnuss, Sahne und Karamell quasi überall zum Drüberschütten. Und in Alukapseln. Man will ja bloß nichts von der mitunter herben Bitterkakao-Schönheit des guten Geschmacks verspüren, während Rihanna sich in Endlosschleife durch den nur aus Refrain bestehenden cheesy Loudness-gebassten Song dudelt.
In diesem Sinne – Prost Mahlzeit!